Artikel
Der Einsturz der Kettenbrücke zu Yarmouth (1845)
von Illustrierte Zeitung 1845

Abschrift aus der Illustrierten Zeitung


Ein ähnliches Unglück, wie es vor einer Reihe von Jahren bei der Einweihung der Kettenbrücke über die Saale bei Nienburg im Herzogthum Köthen stattfand, ereignete sich Freitag am 2. Mai in noch größerer Ausdehnung mit der Kettenbrücke über den Fluß Bure zu Yarmouth. Schon seit einiger Zeit spielte in Yarmouth eine Reitergesellschaft. Am Freitag Morgen hatte dieselbe angezeigt, daß einer der Clowns, Namens Nelson, um 5 Uhr des Nachmittags in einer gewöhnlichen Waschwanne von vier "wirklichen Gänsen" mit Zaum und Geschirr gezogen den Bure hinauffahren werde. Zur angegebenen Zeit stand dies Schauspiel wirklich statt und der Clown und seine Gänse fuhren von der alten Brücke in Gegenwart einer ungeheuren Menschenmenge ab. Zwischen der alten Brücke und der Kettenbrücke zieht sich der Nordquai hin und jedes Fleckchen, wo Nelson mit seinen Gänsen gesehen werden konnte, war mit Zuschauern angefüllt. Den bei weitem besten Schauplatz bot aber die Kettenbrücke, die denn auch mit etwa 400 Personen besetzt war, welche sich nach der Südseite drängten, um das nahende Wunder sobald als möglich zu gesicht zu bekommen. Die Brücke ist von zierlicher Bauart, hängt an zwei Pfeilern und besitzt eine weit größere Tragfähigkeit, als die Zahl der darauf befindlichen Personen verlangte; indeß alle Punkte von denen man nach der Stelle sehen konnte, von welcher die Gänse erwartet wurden, waren mit Männern, Weibern und Kindern überfüllt und selbst die Ketten und die Brückenträger waren besetzt. Die nördliche Seite war verhältnißmäßig leer und so entstand ein außerordentlicher Druck nach Süden hin. Das Gedränge erreichte seinen höchsten Grad, als der Ruf erscholl: "Da kommen di Gänse."  In dem Augenblicke hörte man ein Angstgeschrei von den Ufern, wo man die Brücke sich nach einer Seite senken sah; die Ketten sprangen eine nach der andern und fast ehe der Blick der sich drängenden Menschen von dem Schauspiel abgelenkt werden konnte, waren sie in den Strom hinabgestürzt und über ihnen schlug das Wasser zusammen, während die Brücke auf der anderen Seite an den unzerrissenen Ketten hängen blieb.

    Diejenigen, welche Zeugen des Unglücks waren, versichern, daß von den beklagenswerthen Opfern nicht ein Schrei gehört wurde; blos das Spritzen des Wassers bezeichnete die Stelle, welche eine solche Menge von lebenden Wesen verschlungen hatte. Einige Wenige hielten sich an den zerrissenen Ketten fest, doch bemerkte man bald, daß in Folge der Dämmung des Stroms durch die eingestürzte Brücke die wachsende Fluth auch sie bald begraben würde. Alle Boote wurden sofort aufgeboten und bald waren 25 an Ort und Stelle, um die Unglücklichen zu retten. Jede Beschreibung der gräßlichen Scene sowohl am Ufer als im Flusse muß hinter der Wirklichkeit zurückbleiben: Männer und Frauen, Aeltern und Kinder waren von der gräßlichen Angst ergriffen und Wehruf und Todesröcheln erfüllte die Lüfte. Nur Einelnes läßt sich mittheilen. Ein Mann, der von der Brücke geschleudert worden war, fand Gelegenheit sich anzuhalten; eine Frau machte verzweiflungsvolle Versuche seine Füße zu packen und erreichte endlich ihr Ziel; der brave mann blickte nieder, und wiewohl selber in großer Gefahr, sprach er ihr Muth zu, daß sie fest halten sollte, und so wurden sie beide gerettet. Ein Anderer giebt folgenden Bericht von seinem Entkommen, das in seinen schauderhaften Einzelheiten vielleicht Alles übertrifft, was wir Entsetzliches gelesen haben. Er schreibt: "Ich verdanke meine Rettung übernatürlicher Geistesgegenwart und einem kräftigen Arme. Ich fühlte ein Eisen unter mir und packte es mit todeskrampfthafter Hand. Da mein Mund voll Salzwasser war, so richtete ich mich an der Brücke in die Höhe und kam mit dem Kopfe über das wasser. ich umfaßte das Eisen und blickte nun um mich. Kaum hatte ich dies gethan, immer noch bis ans Kinn im wasser steckend, als Jemand mich um den Hals faßte, der mit dem Kopfe aus dem wasser hervorguckte. Ich fühlte, daß ich unters Wasser kam; da holte ich mit dem Arme aus und schlug ihn ins Gesicht. Ich muß ihn hart getroffen haben, denn noch ist die Haut von meinem Knöcheln los. Dann faßte mich ein Frauenzimmer; ich waer gezwungen nach ihr zu schlagen, und das Blut spritze mir ins Gesicht und kam mir in die Augen. Ich war noch der Einzige, der sich über dem Wasser befand, da gab mir die Brücke wieder einen Stoß und ich sank unter. Endlich kam ich wieder hervor, da klammerten sich mehre unter dem Wasser befindliche Leute an mich. Ich war in einer verzweifelten Lage. So griff ich in die Tasche und während ich mich mit einer hand festhielt, machte ich mit der andern mein Messer auf und schnitt an meinen Beinen herunter, konnte die sich anhaltenden aber nicht dahin bringen loszulassen. mein Messer und meine Hände waren mit Blut bedeckt. Ein Mädchen faßte mich um den Leib, sie war jung und sehr hübsch, eine Handwerkerstochter. Ich wollte nicht nach ihr schlagen. Doch die Notwendigkeit war gebiterisch; ich schlug nach ihr, sie stürzte hinten über und ertrank. Ich werde nie den Blick vergessen, den sie mir zuwarf, er schien zu sagen: "Ihr habt mich ermordet." Ich brauchte mein Messer noch einmal gegen einen Mann, sprang dann nach einem Boote und wurde mit zwei Mädchen, die sich an mich geklammert hatten, hineingezogen und so kam ich glücklich an das Ufer. Dort verließ mich aber sofort die Geistesgegenwart und ich wurde in das nächste Wirtshaus gebracht. Ich trank etwas Branntwein und begab mich dann nach hause, die Hände und das Gesicht mit Blut besudelt. Ich ging zu Bett und träumte, das Mädchen, welches ich zuletzt geschlagen, käme und würfe mir vor, daß ich sie gemordet habe."

Von der Zahl, welche bis Abend 11 Uhr ans Ufer gebracht wurde, waren die Augen von 73 für immer geschlossen, größtentheils Weiber und Kinder; bis zum Sonntag wurden 113 aus den Fluthen gezogen; die volle Anzahl der Verunglückten wird 130-140 betragen, von denen der Rest unter der Brücke liegt oder den Fluß hinabgegangen ist.




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Brücken -98545-

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